Freitag, 18. November 2011

Liebeserklärung an ein Album: Ys von Joanna Newsom


Ys ist ein Meisterwerk. Musikalisch und textlich absolut einzigartig, mitreißend und über jeden Zweifel erhaben. Es findet sich in fast allen Jahres- und auch Jahrzehnt-Endlisten großer und kleiner Kritiker, Blogs und Zeitungen auf einem der vorderen Plätze.
Und trotzdem sind es meistens zwei Dinge, die zuerst ins Auge bzw. Ohr fallen und viele Musikhörer davon abschrecken Joanna Newsom zu hören. Auch ich habe lange zu dieser Gruppe gehört.

Zuerst wäre da die Harfe. Newsom ist professionell ausgebildete Harfenspielerin und benutzt sie auch als Hauptinstrument in allen Songs auf Ys. Die Harfe, dieses scheinbar so langweilige, leicht esoterische Instrument, dass sonst nur in der hinteren Ecke von Orchestern seinen Platz findet oder auf ironische Weise in der Popkultur vorkommt. Zu sperrig, zu harmlos um spannend zu sein? Falsch. Newsom zeigt in ihren Kompositionen wie vielseitig, aufregend und auch zu jeder Zeit berührend so eine Harfe klingen kann. Das ist noch dazu zu keiner Zeit akademisch oder eintönig. Stattdessen gibt es hier fünf schwelgerische, dramatische und einfach wunderschöne Lieder zwischen Folk, Pop und einem Hauch Klassik. Unterstützt wird Newsom dabei auf fast allen Songs von einem Orchester, dass von Van Dyke Parks äußerst stimmig arrangiert wurde.

Das zweite „Problem“ ist Joanna Newsoms Stimme. Ebenso wie ihre Musik ist ihr Gesang einzigartig, aber beim ersten Hören auch seltsam und befremdlich, für manche sicher gar nervig und nur schwer zu ertragen. Newsom quietscht und gurrt in einer hohen Stimme, in der immer etwas dramatisches und gleichzeitig niedliches mitschwingt. Das führt dazu, dass viele Hörer bereits vor dem ersten richtigen Hördurchgang behaupten Newsom könne nicht singen und Ys keine weitere Chance geben. Doch ganz im Gegenteil. Die Kontrolle, die Joanna Newsom über ihre Stimme hat, die Emotionen und den Ausdruck, den sie in ihre Vortragsweise steckt, sind unglaublich und beeindruckend. Und mit der Zeit gewöhnt man sich nicht nur an die scheinbar kindliche Gesangweise, man beginnt sie zu lieben. Und es ist auch eigentlich nicht mal wirklich eine kindliche oder gar kindische Stimme. Newsom verbindet in ihrem Gesang viel mehr die Essenz kindlicher Weltoffenheit und Abenteuerlust mit erwachsener Lebensweisheit und Desillusion. 


Nachdem diese Punkte geklärt wären, endlich zurück zu den eigentlichen Songs. Alle fünf stehen mit Songlängen zwischen sieben und siebzehn Minuten und einer Struktur, die auf Refrains oder gar Strophen zugunsten eines Kurzgeschichten-artigen Aufbaus verzichtet, ganz entgegen popmusikalischer Konventionen. Nach einer Eingewöhnungsphase wird aber schnell klar, dass sowohl Songlängen als auch Songstrukturen nötig sind, um Newsoms ausschweifender Musik und ihrem enormen Erzähltalent gerecht werden zu können. Die Texte sind dann auch abwechselnd witzige, spannende und traurige kleine Geschichten, die Vokabular und Einfallsreichtum der meisten anderen Musiker bei weitem übertreffen.  

Emily zum Beispiel ist eine bombastische und aufgeregte Liebeserklärung an Joanna Newsoms Schwester (die auch Background singt), eine Astrophysikerin. Dem entsprechend verbinden die Lyrics dann auch Worte der Zuneigung mit Erzählungen vom gemeinsamen Sterne beobachten, mit einer Pallette farbenfroher Vokabeln . Das alles beschreibt und singt Newsom so detailliert und lebendig, dass der Hörer sofort unmittelbar in diese Situationen befördert wird.
Das wird noch deutlicher bei dem Song Monkey & Bear. Von der Thematik ist das ein Märchen, in dem eine Bärin und ein Affe aus Liebe zueinander und dem Wunsch nach Freiheit aus dem Zirkus ausbrechen. Doch der Affe überredet die Bärin weiterhin für Geld zu tanzen, um überleben zu können. Da sie das nicht erträgt, begeht die Bärin am Ende Selbstmord. Das klingt auf den ersten Blick absurd und merkwürdig aber wieder zeigt die Emotionalität und die Lebendigkeit der Worte ihre volle Wirkung und lässt den Hörer gefesselt und traurig zurück. 
Der ungewöhnlichste Song ist Sawdust & Diamonds, der als einziger auf jegliche zusätzliche Instrumentierung neben der Harfe verzichtet. Dennoch oder auch gerade deswegen ist es der emotional berührendste und überwältigendste Song auf Ys. Auch wenn es schwer ist allen Metaphern, Wortspielen und Gedankengängen zu folgen, bleibt Sawdust & Diamonds einer der treffendsten, poetischsten und realistischsten Liebeserklärungen überhaupt. Jeder zweite Satz ist so schön formuliert oder so prägnant, dass man sich ihn tätowieren lassen könnte. Dazu spielt Newsom scheinbar mühelos komplexe Harfenmelodien, für die eigentlich vier Hände nötig wären und singt den Hörer durch ein Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung, Wut und Freude, während im Hintergrund eine alles durchdringende Aura von Melancholie schwebt. Die typische Hörreaktion dabei lässt sich, wie auch bei allen anderen Songs auf Ys, folgender maßen beschreiben: Offener Mund, debiles Grinsen, plötzlich Gänsehaut, dann ein paar Tränen und am Ende das Gefühl, dass man so eben Zeuge von etwas ganz besonderem geworden ist. Schwachpunkte gibt es so auch keine auf dieser Cd und es bleibt abschließend nur zu sagen: Der Hype, die Lobeshymnen sind alle mehr als angemessen und Joanna Newsoms Musik ist es Wert alle Vorbehalte und Vorurteile über Bord zu werfen...

Sonntag, 6. November 2011

Ungewöhnliche „Liebes“-Filme / Filme über die Liebe II

Hier nun Teil II (Teil I siehe hier: Ungewöhnliche "Liebes"-Filme / Filme über die Liebe ) dieser Reihe.

In dieser zweiten Liste befinden sich Filme, die zwar vom Genre und Inhalt sehr unterschiedlich sind, denen aber eine ungewöhnliche und alles besiegende Liebe im Mittelpunkt der Handlung gemeinsam ist.



Der Sternwanderer (Stardust)
Ja ich gebe es zu, Stardust ist auf dem Papier nicht nur ein Fantasy-Film irgendwo zwischen Fluch der Karibik und dem Hobbit, sondern auch ein waschechtes und kitschiges Märchen. Trotzdem gehört der Film aus mehreren Gründen in diese Liste. 

Der Film beginnt vor gut 100 Jahren in einem fiktiven Dorf in England, dass durch eine Mauer von einem sagenumwobenen Märchenland getrennt wird. Tristan (Charlie Cox), ein naiver und ungeschickter Lebensmittelverkäufer versucht die Zuneigung der oberflächlichen Dorfschönheit Victoria (Sienna Miller) zu gewinnen, die seine vermeintliche große Liebe ist. Gleichzeitig stirbt auf der anderen Seite der Mauer der alte König des Zauberlandes und wirft mit seinem letzten Atemzug sein königliches Amulett ins Weltall und verspricht demjenigen Sohn sein Königreich, der das Amulett zurückbringen kann. Das Amulett kollidiert mit einem Stern, der dadurch in das Märchenland abstürzt wo er sich in das Mädchen Yvaine (Claire Danes) verwandelt. Während Tristan seiner Victoria als Liebesweis verspricht innerhalb einer Woche den gefallenen Stern zurückzubringen, machen sich die Söhne des Königs ebenfalls auf den Weg, um das Amulett zu finden. Auch eine böse Hexe (Michelle Pfeiffer) und ihre beiden Schwestern sind auf der Suche nach dem fleischgewordenen Stern, dessen Herz ihnen ihre verlorene Jugend zurückgeben kann. Tristan und Yvaine mögen sich am Anfang überhaupt nicht, aber durch ihre vielen gemeinsamen Abenteuer entdecken sie langsam eine gegenseitige Zuneigung. 

Diese Kurzbeschreibung des Films schreckt sicher viele ab, aber es steckt so viel mehr in der Geschichte, als nur typischer Fantasy-Kitsch. Der Film (nach der Vorlage des großartigen Buchs von Neil Gaiman) sprüht vor ansteckender Kreativität, nicht nur was die Fantasyelemente angeht, sondern auch in seinem ungewöhnlichen Humor und den liebenswert überzeichneten Charakteren. Neben vielen anderen exzentrischen Figuren sticht neben den fantastisch bösartigen Hexen besonders der Luftpirat Captain Shakespeare (großartig: Robert de Niro) hervor, der hinter einer grimmigen Fassade eine schillernde Persönlichkeit verbirgt. 

Im Herzen des Märchens steht aber natürlich die langsam aufblühende Liebe zwischen Tristan und Yvaine. Der Stern verliebt sich schnell in den jungen Mann, aber Tristan braucht eine Weile um zu erkennen, dass seine wahre Liebe nicht die falsche Victoria, sondern der menschgewordene Stern ist, der in seiner Nähe immer heller aufleuchtet. Die beiden Liebenden sind dabei von Anfang an erfrischend anders als in so vielen Liebesfilmen. Tristan träumt nur von der großen Welt und der wahren Liebe, Yvaine dagegen kennt Liebe und Abenteuer nur aus ihrer Beobachterperspektive im Himmel. Beide stürzen sich dann bei erster Gelegenheit mit großen Augen und einer charmanten Naivität ins Abenteuer, die den Zuschauer einfach mitreißt. Dasselbe gilt auch für ihre alles mitreißende Liebe. Yvaine verrät ihre Gefühle durch ein ausgeprägtes Leuchten in Tristans Gegenwart und er trägt alle seine Gefühle offen als seine größte Stärke gegen die falschen und intrigierenden Nebenpersonen des Films. Am Ende siegt natürlich wie in jedem Märchen gut über Böse und die Liebe über den Hass, aber es ist der ungewöhnliche Weg zu diesem Ende und die aufregende Chemie zwischen den Claire Danes und Charlie Cox, die diesen Film hervorhebt und mich am Ende sogar offen mitfiebern, entgegen meiner besten Vorsätze. 


Abbitte (Atonement)

Gute Buchverfilmungen sind selten. Sie machen etwas neues aus dem Buchmaterial, überspielen die Schwächen und nutzen die Vorteile des Filmmediums ohne dabei die ursprüngliche Geschichte zu zerstören. Atonement nach dem fantastischen Buch von Ian McEwan ist so eine Seltenheit. Wie das Buch erzählt auch die Verfilmung von Joe Wright (Stolz und Vorurteil, Wer ist Hanna?) eine überwältigende und mitreißende Geschichte von Liebe, Schuld und Sühne.

Die erfolgreiche Schriftstellerin Briony Tallis nutzt ein Fernseh-Interview anlässlich ihres neuen Buches von einem Fehler zu berichten, den sie in ihrer Kindheit begangen hat und der sie bis ins hohe Alter nicht mehr losgelassen hat. Von diesem Punkt aus entfaltet sich die eigentliche Handlung des Films in zwei Teilen vor und während dem zweiten Weltkrieg. Briony kommt aus einer wohlhabenden Familie und führt ein sorgloses Leben im Mittelpunkt des familiären Landsitzes. Der erste Teil des Films spielt nur im Laufe eines Tages und endet in einer Katastrophe nachdem Briony die geheime Liebe zwischen ihrer Schwester Cecilia (Keira Knightley) und Robbie (James McAvoy), dem Sohn des Hausdieners, fehlinterpretiert. Mit einer Lüge, geboren aus kindlichem Unverständnis und Eifersucht, zerstört das junge Mädchen ungewollt nicht nur die Beziehung der jungen Liebenden, sondern auch das Leben der Beiden für immer. 

Der zweite Teil des Films setzt Jahre später ein und Brionys Lüge hat dafür gesorgt, dass Robbie zunächst im Gefängnis landet und jetzt im zweiten Weltkrieg kämpfen muss, während Cecilia jeglichen Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat und als Krankenschwester arbeitet. Briony versucht jetzt, nachdem sie die Schwere ihrer Taten als Kind verstanden hat, Busse zu tun, indem sie ebenfalls als Krankenschwester arbeitet und erneut die Nähe zu ihrer Schwester sucht. Während Cecilia, Robbie und Briony mit dem Grauen des Krieges konfrontiert werden, halten die beiden Liebenden ihre Liebe tapfer aufrecht, der durch die Umstände nie eine Chance gegeben wurde. Der Zuschauer sieht von der Liebe zwischen Cecilia und Robbie nur einen Tag voller Andeutungen und vielsagender Blicke. Den Rest des Filmes müssen sie getrennt verbringen und nur der Gedanke an den anderen und zahlreiche Briefe lassen sie die Ungerechtigkeiten des Lebens und den Horror des Krieges ertragen. Das reicht vollkommen um sich in die Liebe der beiden zu investieren und mehr zu verraten wäre dem Genuss des Films abträglich. Wir sehen die Beziehung der Liebenden durch die Augen von Briony, die sich im Laufe des Filmes wiederum in den Augen des Zuschauers rehabilitieren kann, nicht nur durch ihre guten Taten als Krankenschwester im Krieg oder der Einsicht ihrer Fehler als Kind, sondern vor allem, weil sie, wie der Zuschauer schon lange vorher, die Größe und Tragik der Liebe zwischen Robbie und Cecilia erkannt hat. 

Was den Film noch viel schöner macht sind die filmischen Komponenten. Joe Wright filmt unvergessliche Szenen, zuerst auf dem malerischen Landsitz von Brionys Eltern, gefüllt mit wilder Natur und kräftigen Farben. Auch die Szenen im Krieg bewahren sich, trotz ihres grausigen Inhalts, durch ihre meisterliche Komposition eine eigene Schönheit, die noch unterstrichen wird von dem herzergreifenden und zu recht Oscar-gekrönten Soundtrack von Dario Marianelli. Der Film ist ein aufwendig inszenierter Historienfilm und ein großangelegtes, dramatisches Epos, doch im Herzen ein Film über eine ungewöhnliche Liebe.


Kammerflimmern

Kammerflimmern ist einer meiner Lieblingsfilme aus Deutschland und erzählt eine typisch deutsche Liebesgeschichte, die aber dennoch originell ist. Crash (Matthias Schweighöfer) verlor als Kind bei einem Autounfall beide Eltern, ein Vorfall, der ihn zu einem traumatisierten, hypersensiblen Einzelgänger gemacht hat. Als Rettungsassistent versucht er alle verletzten, kranken und sterbenden Menschen, die ihm begegnen zu retten. Doch das Elend, dass er sieht, wäre schon für hartgesottene Naturen zu viel und Crash droht daran zu zerbrechen. Jede Niederlage, jeden Toten nimmt er persönlich. Das einzige, dass ihn glücklich macht sind wiederkehrende Träume an deren Ende immer das lächelnde Gesicht einer ihm unbekannten Frau auftaucht.

November (Jessica Schwarz) ist hochschwanger und versucht den Vater ihres Kindes von den Drogen weg zu bekommen. Als dieser trotzdem an einer Überdosis stirbt, ist der herbeigerufene Rettungsassistent niemand anderes als Crash, der in November sofort die Frau aus seinen Träumen wieder erkennt. Die zarte Liebesgeschichte, die jetzt entsteht, scheint zunächst angesichts der vielen Hindernisse, die ihr im Weg stehen, mehr als unwahrscheinlich. November trauert um den toten Vater ihres ungeborenen Kindes und steht vor der Herausforderung ein Kind alleine und aus tiefster Trauer heraus groß zu ziehen. Crash dagegen ist immer noch nicht über den Tod seiner Eltern hinweg, wird täglich mit Leid konfrontiert, dass er weder verarbeiten noch filtern kann und sieht in November zunächst eine Art Traumwesen, dass ihn von all dem erlösen wird.

Das die Liebesgeschichte trotzdem schön und vor allem glaubwürdig bleibt, liegt in der Hauptsache an den beiden Hauptdarstellern. Schweighöfer und Schwarz waren zum Zeitpunkt von Kammerflimmern noch keine allgegenwärtigen Stars, sondern lediglich Hoffnungsträger des deutschen Films und bewiesen hier mit natürlichen Darstellungen bereits eindrucksvoll ihr Können. Die Chemie zwischen den beiden überaus fragilen Figuren ist großartig und hilft dem Film, der statt auf große Gesten und Kitsch lieber auf intime Szenen setzt, enorm.

Die zärtlichen und hoffnungsvollen Szenen zwischen Crash und November helfen auch den Rest des Films auszugleichen. Durch seine Arbeit trifft Crash nicht nur trauernde Angehörige, Sterbende und Menschen, die das Leben bereits lange aufgegeben haben, sondern, in der tragischsten Szene des Films, auch ein junges Mädchen, dass sich umbringen will. Der naive wunsch von Crash sie und all die anderen zu retten und die endgültige Vergeblichkeit seiner Bemühungen wiegen nicht nur schwer auf seinen Schultern, sondern in Verlängerung eben auch auf denen der Zuschauer. Das zerbrechliche Glück, dass er mit November bekommen hat, ist etwas in das man beim zuschauen schnell investiert ist. Diese Liebe ist nicht nur glaubwürdig, sondern auch verdient und notwendig für das Seelenheil aller Beteiligten. Selten habe ich so sehr auf ein Happy End gehofft und es den Filmfiguren von ganzem Herzen gegönnt... 


Alles was wir geben mussten (Never let me go)

Eine Warnung vorweg: Dieser Film hat mich absolut zerstört.

In einer leicht abgeänderten Realität hat die Medizin so gewaltige Fortschritte gemacht, dass ein Leben von über 100 Jahren zur Normalität wird. Der Preis dafür ist das Klonen von Menschen, die nur als Organspender konzipiert werden. Kathy (Carey Mulligan), Ruth (Keira Knightley) und Tommy (Andrew Garfield) wachsen auf einem elitären, aber isolierten Internat auf und erfahren bereits als Kinder, dass sie nur bis ins frühe Erwachsenenalter leben werden und dann ihre Aufgabe als Organspender zu erfüllen haben. In drei Ettapen zeigt der Film dann Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter der drei Protagonisten, ein Leben was sie zwar langsam aber nie endgültig an die normale Gesellschaft heranführt. Die Vorstellung einer Gesellschaft in der menschliche Organspender nur zum Wohle anderer Menschen existiert ist erschreckend, schlimmer aber noch ist die Unbekümmertheit mit der der größte Rest dieser Gesellschaft, aber auch die Organspender selbst diese Tatsache hinnehmen. Die Indoktrination ist auch für Kathy, Ruth und Tommy so komplett, dass sie sich ihrem Schicksal größtenteils hingeben und nur wegen eines Gerüchtes, dass für Organspender, die echte Liebe gefunden haben, das Spenderdasein verzögert werden kann, gelegentlich von einem anderen Leben träumen. So verbringen sie ihr Leben erst in dem Internat, später auf einem Bauernhof in der malerisch schönen Landschaft Englands, die immer als starker Kontrast zu der Hässlichkeit dieser Klongesellschaft eingesetzt wird.

Das bemerkenswerte an Never let me go ist, dass die drei Protagonisten trotz dieser düsteren Lebensaussicht und ihrem scheinbar unausweichlichen Schicksal nicht aufhören zu träumen oder zu lieben. Kathy und Tommy sind scheinbar schon im Kindesalter füreinander bestimmt, aber die extrovertierte Ruth stellt sich ihnen in den Weg. Es entwickelt sich eine Dreiecksgeschichte, die sich über fast 20 Jahre spannt. Die drei zunächst unzertrennlichen Kinder entfernen sich langsam geistig voneinander und gehen dann auch getrennte Wege. Ruth und Tommy beginnen ihre Karriere als Organspender und Kathy macht eine Ausbildung als Pflegekraft für andere Organspender, die sich Operationen unterziehen. Das immens unfaire an dieser Geschichte ist der Zeitmangel der Drei, den man als Zuschauer immer mehr spürt im Laufe des Films. Die Protagonisten haben nicht nur deutlich weniger Zeit für die Liebe und alles wichtige im Leben, sie haben auch von klein auf ihren scheinbar unverrückbaren Lebensweg vor Augen an dessen Ende der unvermeidliche Tod steht. Erschwerend kommt hinzu, dass sie von ihrer Umgebung nicht als vollwertige Menschen angesehen werden und sich ihre Menschlichkeit und Einzigartigkeit erst erkämpfen müssen. Sie können versuchen, dass beste aus ihrem Leben zu machen oder sich ihrem Schicksal ergeben und auf den erlösenden Tod warten. Am Ende des Films sieht der Zuschauer, dass Liebe und Freundschaft eine dystopische Gesellschaft zwar nicht überwinden können, aber selbst ein kurzes Leben lebenswert und wertvoll machen können.

to be continued...


Dienstag, 1. November 2011

Liebeserklärung an einen Film: Kiss Kiss Bang Bang

Kiss Kiss Bang Bang war ein erstaunlich wichtiger Film für viele der Beteiligten. Es war ein Comeback und auch ein Neuanfang für Drehbuchschreiber und Regisseur Shane Black. In den 80ern und 90ern war er verantwortlich für einige große Action-Blockbuster (u.a. Lethal Weapon), bevor er gänzlich von der Bildfläche verschwand. Kiss war seine erste Regiearbeit und transportierte seinen unnachahmlichen Schreibstil in eine gleichzeitig moderne und wunderbar altmodische Actionkomödie. Danach wurde es zwar seltsamerweise schnell wieder still um Black, aber dieser Film sicherte ihm immerhin Regie- und Schreiberposten für Iron Man 3. Für Robert Downey Jr. war Kiss natürlich noch wichtiger. Erst Iron Man machte ihn zwar erneut zum Superstar, nachdem er durch Drogen seine Karriere zwischenzeitlich scheinbar zerstört hatte, aber es war dieser Film, der zeigte, dass er wieder oder immer noch das Zeug zum Hollywoodstar hatte. Auch für Hauptdarstellerin Michelle Monaghan war Kiss der Beginn einer größeren Karriere, die sie zwar nicht ganz an die Spitze Hollywoods, aber doch relativ nahe daran katapultierte. Am traurigsten ist aber im Zusammenhang des Films die Karriereentwicklung von Val Kilmer. Kiss Kiss Bang Bang war mit der letzte gute Film von einem durchaus begabten Schauspieler. Seitdem wurde Kilmer nur noch dicker und hat es sich scheinbar zum Ziel gesetzt in möglichst vielen B- und C-Movies zu erscheinen.

Dafür, dass er so zentral für die Beteiligten war blieb der Film überraschend erfolglos und ist auch heute noch abgesehen von einem gewissen Kultstatus erschreckend unbekannt. Immerhin taucht Kiss in vielen Listen als einer der besten Filme des letzten Jahrzehnts auf, aber für den Mainstream scheint es eine zu wilde Mischung verschiedener Genres zu sein. Aber zunächst kurz zum Inhalt.

Harry Lockhart (Downey Jr.) ist ein Kleinganove, der beim Versuch Weihnachtsgeschenke für seinen Sohn zu kaufen erwischt wird. Während sein Partner angeschossen wird, flüchtet Harry aus Versehen in ein Vorsprechzimmer für einen Hollywoodfilm. Seine Nervosität und Verzweiflung wird für schauspielerisches Können gehalten und er erhält die Rolle. Schnell bekommt er für den Detektivfilm, in dem er jetzt die Hauptrolle hat, den Privatdetektiv Gay Perry (Kilmer) als Berater an die Seite gestellt. Statt sich aber aus dem Staub zu machen oder wenigstens auf seine Rolle zu konzentrieren, gibt Harry sich als echter Privatdetektiv aus als ihm seine Jugendliebe Harmony Faith Lane (Monaghan) über den Weg läuft, die sich als naive Möchtegernschauspielerin in Hollywood durchschlägt. Als Harmonys Schwester ermordet wird, übernimmt Harry vollkommen ahnungslos und zum großen Verdruss von Gay Perry den Fall in dem sich schnell die Toten häufen und das Chaos ausbricht.

Zurück zu den Genres. Kiss Kiss Bang Bang mischt hauptsächlich zwei Arten von Filmen, Film Noir und die Buddy Action Komödie. Für zweiteres ist Shane Black durch Lethal Weapon so etwas wie der Gottvater. Doch im Gegensatz zu den typischen Buddy Filmen wird das Konzept hier auf den Kopf gestellt. Harry ist zwar ähnlich wie Mel Gibson in der Lethal Weapon-Reihe der wilde Draufgänger, hat aber im Gegensatz zu typischen Actionhelden keinerlei Qualifikationen und stolpert von einer Katastrophe in die nächste. Gay Perry dagegen ist der "Straight Man" des Films, einer Rolle, die im Kontrast zu seiner oft erwähnten Homosexualität steht, der er aber wiederum mit einem Verhalten entegegensteht, dass im krassen Gegensatz zu allen schwulen Filmklischees steht. Zusammen werden die beiden in eine Geschichte hineingezogen, die zunächst wirkt wie ein klassischer Film Noir. Die mysteriöse und verführerische Harmony zieht Harry und damit auch Gay Perry in einen Mordfall, der nach und nach eine größere Verschwörung offenbart. Doch auch hier stellt der Film die Konventionen auf den Kopf. Harry versucht die Detektive aus Film Noir-Filmen zu imitieren, scheitert aber kläglich: statt die Morde aufzuklären macht er einen Fehler nach dem anderen und impliziert sich immer mehr darin. Perry dagegen ist zwar kompetent, aber überhaupt nicht an der Aufklärung des Falles oder gar dem Heldentum interessiert. Harmony ist in diesem Kontext die mysteriöse „damsel in distress“, aber ohne sich ihrer eigenen Sexualität bewusst zu sein, geschweige den sie richtig zu benutzen. Die beiden Teile des Films ergänzen sich auf interessante Weise. Die schräge und pfeilschnelle Actionkomödie gibt der Detektivgeschichte großartigen, pausenlosen Humor und einen durchgehend hohen Adrenalinspiegel, während der Film Noir -Anteil den Actionfilm durch eine durchdachte und spannende, wenn auch zunehmend absurde Hintergrundgeschichte abrundet.

Die erste große Stärke des Films sind die Dialoge. Wie in seinen vorherigen Filmen schafft Black es den Sprüchefaktor konstant hoch zu halten und trotzdem keinerlei Füller oder Schwachpunkte in den Dialogen zu offenbaren. Die manische Überdrehtheit von Harry, der trockene Zynismus von Gay Perry oder die naive Schrulligkeit von Harmony sind durchegehend lustig und sympathisch und in Kombination einfach unschlagbar. Die zweite große Stärke ist dann natürlich die Besetzung. Harry Lockhart ist "die" typische Robert Downey Jr. -Rolle. Er verkörpert den schnell redenden, neurotischen, absolut trotteligen, aber immer ebenso liebenswerten Harry perfekt. Bevor Downey Jr. durch seinen erneuten Erfolg allgegenwärtig und auch zunehmend zu einer reinen Marke wurde, war seine Rolle in diesem Film etwas absolut erfrischendes. Michelle Monaghan dagegen hat zwar die meist undankbare Rolle des "Traummädchens", verleiht ihrer Figur aber auch Tiefe und ihr komödiantisches Timing. Und dann ist da noch Val Kilmer, der hier auf tragische Weise beweist, wie gut er doch eigentlich sein kann mit dem richtigen Material. Der beißende Sarkasmus und die zunehmende Frustration verursacht von den inkompetenten Idioten, die ihn umgeben und den absurden Situationen in die er gegen seinen Willen reingezogen wird, ist einfach extrem witzig und großartig gespielt von Kilmer. Die drei Schauspieler in Kombination mit diesem Drehbuchfeuerwerk sind eine Glanzleistung des Casting Directors und eine Quelle unendlicher Freude für den Zuschauer.

Eine letzte Eigenheit und Stärke des Films ist seine Erzählform. Harry selbst ist der Erzähler und zwar ein typisch unzuverlässiger Erzähler. Er ergänzt die Handlung durch Rückblicke auf seine und Harmonys Kindheit, spult die Handlung zurück, weil er etwas vergessen hat und ändert das Ende des Films nach seinen Vorstellungen. Das ganze macht Harry irgendwie noch sympathischer und am Ende des Films wünscht man sich nichts sehnlicher als viele weitere Filme mit einem gemeinsamen Detektivbüro der Hauptdarsteller im Mittelpunkt. Da aber dieser perfekte Film auf der anderen Seite niemals durch Fortsetzungen oder ähnliches verunstaltet werden sollte, bleibt abschließend nur die Hoffnung, dass alle Beteiligten noch häufig zusammen arbeiten werden und vor allem auch Shane Black bald wieder häufiger Filme machen wird. 


Ältere Liebeserklärung hier: The Fountain