Sonntag, 26. Juli 2015

Alben und Songs des Monats - Juni & Juli



 Vince Staples - Summertime '06
"My teachers told me we was slaves. My mama told me we was kings.
I don't know who to listen to. I guess we somewhere in between."

Das lang erwartete Debüt-Album von Vince Staples übertrifft Erwartungen und ist dabei in vielerlei Hinsicht auf angenehme Weise äußerst überraschend.

Staples wurde bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Odd Future und zeigte bereits dort, dass von ihm noch großes zu erwarten ist. Richtig bekannt wurde er dann durch seine gefeierte EP Hell Can Wait auf der Staples aus Gangsta Rap, fantastischen Lyrics und seinem düsteren Weltbild absolute Banger machte. Doch statt diesen Weg konsequent weiter zu gehen, gibt es mit Summertime '06 ein unheimlich düsteres, monolithisches Konzept-Doppel-Album. Und entgegen aller Befürchtungen hat er sich dabei auch noch selbst übertroffen. Es gibt weniger Hits und definitiv keine Radio-Singles auf Summertime, aber ein kompromissloses, abwechslungsreiches Meisterwerk, das trotzdem immer nach Vince Staples klingt und bei 20 Songs keine einzelne Schwachstelle aufweist.

Großen Anteil daran hat sicher auch der legendäre Produzent No I.D., der den Großteil des Albums produzierte und daneben Beats von Clams Casino und DJ Dahi mühelos in das Ganze einflechtete, ohne ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten zu opfern. Wo viele andere Rap-Alben entweder unter nicht zusammen passenden Tracks leiden oder aber unter einer zu großen Gleichförmigkeit, formten No I.D. und Staples ein ganzes Doppel-Album wie aus einem Guss, das dennoch beeindruckend vielseitig bleibt. Die Beats an sich sind größtenteils minimalistisch und düster, behalten aber dabei immer Glanz und Größe .

Das entscheidende für den Erfolg dieses Albums ist aber natürlich das immense Talent von Vince Staples, der mit seinen gerade einmal 21 Jahren selbstbewusst und abgeklärt klingt, aber auch hungrig und energisch wie noch nie. Mein Eindruck eines "Side-Kicks" anderer Rapper, der regelmäßig die Show stiehlt, wird hier schnell widerlegt - Staples ist trotz vieler Gäste der uneingeschränkte Star auf Summertime und erzwingt die Aufmerksamkeit zu jeder Sekunde. Die Features sind mehr Teil der Produktion, fügen sich nahtlos in die Geschichte ein und verstärken die Wirkung des Hauptdarstellers nur noch. Und der ist nicht nur ein großartiger Rapper und Texter, sondern auch ein glaubwürdiger Erzähler. Als ehemaliges Gang-Mitglied zeichnet er ein realistisches Bild einer Jugend ohne Perspektiven und Ausweg. Der Titel des Albums steht für das Jahr in dem Staples und seine Freunde ihre Unschuld verloren und ihre Kindheit endete. Er rappt wie so viele andere über das Gangleben, verzichtet aber vollständig auf seine Glorifizierung. Dieser Realismus macht Summertime zu einem bedrückenden und oft hoffnungslosen Album, aber auch zu einem intensiven, fesselnden Hörerlebnis.           

Lieblingslieder: Lift Me Up, Dopeman (feat. Joey Fatts & Kilo Kish), Señorita, Summertime, Surf (feat. Kilo Kish), Get Paid (feat. Desi Mo), Like It Is

Hudson Mohawke - Lantern
"Watch out for the Riders - YEAH, Watch out!"

Der Hype für Hudson Mohawkes neues Album verpuffte überraschend schnell, was aber keineswegs an der Qualität von Lantern lag, sondern vermutlich viel mehr an falschen Erwartungen und einem Künstler, der sich absolut nicht festlegen will oder kann.

Mohawke wurde durch TNGHT, sein gemeinsames Projekt mit Lunice, bekannt und produzierte danach Musik für hochkarätige Hip Hop-Stars wie Kanye West. Auf Lantern gibt es mehr von dieser Art von Musik (auch wenn keine Rapper auftauchen), aber auch ganz viel anderes. Das hört sich bestenfalls wie eine Compilation von Hits an, klingt aber oft einfach etwas unausgegoren und ziemlich durcheinander. Die bereits erwähnten instrumentalen Tracks, die an TNGHT erinnern, wechseln sich mit poppigen Hymnen, inklusive hochkarätiger Gastsänger, ab. Daneben gibt es dann noch Tracks, die wie Teiles eines bombastischen Filmsoundtracks klingen oder einfach fröhliche Clubsongs. Auch wenn Mohawke sich nach eigener Aussage offenbar viel dabei gedacht hat, wirkt das Album insgesamt wie drei oder vier unterschiedliche EPs, die wild zusammen gewürfelt wurden.

Bevor das zu negativ klingt, muss ich sagen, dass mir das Album nach anfänglicher Skepsis trotzdem enorm gefällt. Ich betrachte das ganze einfach mehr wie eine Song-Sammlung, bei der ich mir je nach Stimmung, die passenden Lieder raus picke. das euphorische Ryderz etwa mit seinem perfekt in Szene gesetzten Soul-Sample ist ein Gute-Laune-Garant. Dann gibt es das wunderbar behämmerte Shadows, das gleichzeitig an 8-Bit-Musik und Eurodance erinnert und gerade deswegen viel Spaß macht. Und auch die Popsongs sind wirklich toll, auch wenn sie nicht zum Rest passen. Besonders Miguel und vor allem der immer wunderbare Antony Hegarty werden von Mohawke wunderbar umschmeichelt. Alles in allem gibt es also keinen einfachen oder durchgehenden Hörgenuss auf Lantern, aber auch keinerlei schwache Songs.

Lieblingslieder: Ryderz, Indian Steps (feat. Antony), Scud Books, Deepspace (feat. Miguel)   

MS MR - How Does It Feel
"No one taught me better than you. There will be highs and there will be lows. Not a lot has to change, things just can't stay the same."

Der Albumtitel des zweiten Albums von MS MR ist ziemlich passend, da ich auch nach vielen Hördurchgängen nicht wirklich weiß, wie ich das Album finden oder bewerten soll. Und irgendwie gilt das auch für das ganze Schaffen der Band.

2012 veröffentlichten MS MR ihre erste EP, die bereits das Beste der Band zeigte. Vier perfekte Pop-Songs, bombastisch aber stimmungsvoll und dabei fast etwas unheimlich. Größte Stärke war dabei die riesige Stimme von Lizzy Plapinger, die den Songs gleichzeitig Hymnen-Status und großes Gefühl gab.
Das erste Album kam dann ein halbes Jahr später und war vor allem mehr desselben. Das lag vor allem daran, dass die vier Songs der EP auch hier zu finden waren und fast alle anderen Songs deutlich in den Schatten stellten.

Und drei Jahre später kommt dann ein Album, das, trotz einiger vorsichtiger Experimente, wieder ziemlich ähnlich klingt. Und das macht es schwer zu sagen, wie ich How Does It Feel eigentlich finde. Die meisten Bands, die sich immer wiederholen, sind sehr langweilig. Aber trotz allem, finde ich einige Songs hier wieder ziemlich mitreißend und Plapingers Stimme ist nach wie vor eine absolute Wucht. Es sind dann vor allem auch jene Songs meine Highlights, in denen sie ihre Stimme besonders ausreizt. Dann funktioniert auch die eigentlich seltsame Mischung aus Synth Pop mit 80er-Nostalgie, düsterer Stimmung und You-Can-Do-It-Mentalität besonders gut.
Doch es gibt auch genug Songs, die trotz toller Stimme und bombastischem Sound beim Hören einfach verpuffen und keinen großen Eindruck hinter lassen. Und insgesamt ist das Album auch etwas "fröhlicher" und verliert dadurch den verträumten und düsteren Unterton - einer der größten Stärken der Band bisher.
Es lässt sich deshalb wieder fest stellen; zurecht gestutzt auf EP-Länge wäre How Does It Feel immer noch eine Selbstkopie, aber trotzdem ziemlich großartig. So muss man sich dann doch die Highlights raus picken und ausmalen, wie viel Potential da noch vorhanden wäre...

Lieblingslieder: Painted, No Guilt In Pleasure, Leave Me Alone, Pieces      

The Armed - Untitled
 "Don't tell me what to do. Don't tell me how to think.
Don't tell me anything at all. It's all just noise."

Ich bin großer Fan von richtig dreckigem Punk Rock und auch von brutalem, technisch beeindruckenden Math Rock. The Armed vermischen diese beiden Genres so mühelos und auf hohem Niveau, dass still sitzen zur Unmöglichkeit wird beim zuhören.

Ich weiß nicht, wieso mir diese Band bisher unbekannt war, obwohl der Meister persönlich, Kurt Ballou (Converge), ihre Musik produzierte. Und wie alles, was der Mann berührt, klingt Untitled fantastisch warm, klar und doch so schweißtreibend und unmittelbar wie ein Tritt ins Gesicht.

Aufmerksam bin ich auf die Band vor allem geworden, weil der übernatürlich begabte Nick Yacyschyn (Baptists, Sumac) auf dem Album Schlagzeug spielt. Im Gegensatz zu seinen anderen Bands, scheint er, angespornt vom Rest von The Armed, sogar noch eine Schippe drauf zu legen. Das Drumming ist technisch präzise, komplex und doch nie klinisch oder angeberisch.

Der Rest der Band steht Yacyschyn in nichts nach und prügelt den Hörer auf 14 Songs fast in die Besinnungslosigkeit. Die größte Leistung ist dabei die bereits erwähnte Verbindung von Genres. Für jede Math Rock-Explosion gibt es melodische Stellen, unglaublich eingängiges Songwriting und eine immer absolut mitreißende Stimmung, egal wie technisch oder brutal die Musik gerade ist. The Armed funktionieren wie eine perfekt geölte Maschine, eine Hitfabrik der härtesten und experimentellsten Sorte. Ich glaube nicht, dass mir ein Album aus dem Hardcore/Metal-Bereich dieses Jahr mehr Spaß bereiten wird. Und das beste Album zum Sport treiben seit Ewigkeiten ist Untitled sowieso.   

Lieblingslieder: Future Drugs, Forever Scum, Blessings, No Risk, Paradise Day

Jenny Hval - Apocalypse, girl
 
"Could I give you that, that which sometimes expects nothing?
Accepting restlessness, accepting no direction, accepting this fearful wanting that isn't desire?"
 
Jenny Hval macht experimentelle Popmusik, die sich trotz ihrer Seltsamkeiten und abstrakter Texte eine unerwartete Eingängigkeit bewahrt. Ihr letztes Album Innoncence Is Kinky war trotz experimentellem Charakter und tiefgreifenden Konzepten angenehm direkt und hatte mit dem Titelsong einen kleinen Hit.

Apocalypse, Girl schraubt die Zugänglichkeit zugunsten von Improvisation und Experimentierfreude, noch etwas weiter zurück. Doch auch hier schimmern funkelnde Melodien immer wieder durch und bilden einen faszinierenden Kontrast. Stimmlich ist Hval unverändert beeindruckend, aber sicher auch nach wie vor polarisierend. Ihr Gesang ist mal kindlich verspielt, mal flüsternd und unheimlich, dann wieder groß und beeindruckend. Er ist jedoch immer recht hoch und wird, ähnlich wie bei Joanna Newsom oder Björk, mehr als vielseitiges (und technisch äußerst beeindruckendes)  Instrument eingesetzt. Das kann beim zuhören anstrengend sein, ist aber auch immer wieder absolut fesselnd. Die Texte der Songs sind dabei kaum konventionelle lyrics, sondern mehr vertonte Gedichte, abstrakte Traumbilder und durchdachte Provokationen. Darin geht es immer wieder um das Verhältnis der Geschlechter und Körper(bilder) im Kapitalismus - Themen, die neben vielen anderen, mit Humor aber auch in einer aufschreckenden Deutlichkeit behandelt werden.

Die Musik auf Apocalypse, Girl ist, im Gegensatz auch zu den Vorgänger-Alben, noch zurück genommener. Der experimentelle Sound, mit seinen Ambient- und Drone-Anflügen erinnert mich an Swans oder Xiu Xiu, aber die oft furchteinflößende Wut und Bedrohlichkeit dieser Bands wird bei Jenny Hvals Musik ersetzt durch eine unbestimmte Bedrohlichkeit und den spannenden Kontrast von Songs, die zugleich zutiefst körperlich und doch auch abstrakt und ätherisch wirken.
Was jedoch bei diesen hochtrabenden Worten nicht vergessen werden darf, ist, dass Apocalypse, Girl auch einfach nur sehr unterhaltsam und immer wieder auch äußerst bewegend ist.

Lieblingslieder:  Take Care Of Yourself, That Battle Is Over, Sabbath


Songs:

Julien Baker - Sprained Ankle: Das Internet ist schon was tolles. Es ermöglicht mir eine noch nahezu unbekannte Künstlerin, die tausende Kilometer entfernt lebt und Musik macht, durch Zufall zu entdecken. Ein fesselndes Foto und dann ein absolut umwerfender Song und die Welt ist sofort schöner. In nicht mal 2 1/2 Minuten zaubert Baker nur mit ihrer zarten, aber vollen Stimme und hypnotischen Gitarrenklängen ein kleines Meisterwerk voller Gefühl. (Link)

Chvrches - Leave a Trace: Das unglaublich sympathische Trio aus Glasgow macht immer noch tollen Synth Pop mit großen Refrains. Die erste Single des zweiten Albums knüpft nahtlos am bisherigen Sound der Band an, ist dabei neben einem besonders großartigen Refrain aber auch mit einer überraschenden Portion Wut ausgestattet, die ihm sehr gut steht. (Link)

Foals - Mountain At My Gates: Foals entwickeln sich konstant weiter, aber spätestens mit dem zweiten Album in einer kontinuierlichen Richtung: Dramatische Rockmusik mit Pop- und auch leichtem Post-Rock-Einschlag. Die ersten Singles des vierten Albums machen da keinen Unterschied, scheinen aber insgesamt noch eine ganze Ecke gewaltiger daher zu kommen. (Link)

Laura Marling - I Feel Your Love (Director's Cut): Short Movie war Laura Marlings elektrisches und rockiges Album, da liegt es nur nahe den Songs eine Rock n Roll-Überarbeitung zu schenken. Bei Feel Your Love wird die akustische Gitarre von einem stampfenden, elektrischen Blues-Riff ersetzt und die Streicher durch einen Background-Chor. Steht dem wütenden, sexy Song ausgesprochen gut. (Link)  

Bully - I Remember: Auch wenn ich die Band sehr mag, fiel es mir schwer über Bullys Debüt-Album zu schreiben. Sie sind eine weitere Band in einer scheinbar endlosen Reihe an 90er-Fans. Grunge, Pop Punk und Emo bilden auch hier einen typischen Sound. Aber abgesehen davon, dass Bully wirklich gute Songwriter sind, haben sie in Alicia Bognanno eine Wunderwaffe im Arsenal. Sie hat eine angenehme Singstimme und kann dazu schreien wie Kurt Cobain, aber mit viel mehr Power... (Link)

Carly Rae Jepsen - Run Away With Me: Ich bin kein großer Verfechter von "Poptimism", große Teile der Radiohits sind nach wie vor billig und langweilig, auch wenn sie von Indie-Schreibern schön geredet werden. Aber es gibt auch Ausnahmen wie Carly Rae Jepsen. Wer hätte gedacht, dass sich die Sängerin des unsäglichen "Call Me Maybe", mit Hilfe geachteter Songwriter, mal in eine Produzentin wirklich mitreißender, ansteckend positiver und irgendwie einfach guter Popsongs verwandeln würde? (Link)   

Meow the Jewels - Meowrly: Letztes Jahr versprachen EL-P und Killer Mike scherzhaft, dass sie ihr Album erneut aufnehmen würden und die Produktion komplett durch Katzengeräusche ersetzen würden, wenn jemand eine Deluxe-Version ihres Albums für 40.000 $ kaufen würde. Dann sammelte ein Kickstarter von Fans das nötige Geld in Rekordzeit ein und brachte die Band in Zugzwang. Doch Run The Jewels machten keinen Rückzieher, sondern begannen das Album tatsächlich zu produzieren, bekamen noch jede Menge hochkarätige Unterstützung dazu UND gaben das gesammelte Geld an die Hinterbliebenen von Eric Garner und Michael Brown. Bei all dem ist das eigentliche Produkt schon fast egal, aber jetzt ist der erste Song veröffentlicht und klingt wenig überraschend gleichzeitig fast unhörbar und fantastisch. (Link)