Ys ist ein Meisterwerk. Musikalisch und textlich absolut einzigartig, mitreißend und über jeden Zweifel erhaben. Es findet sich in fast allen Jahres- und auch Jahrzehnt-Endlisten großer und kleiner Kritiker, Blogs und Zeitungen auf einem der vorderen Plätze.
Und trotzdem sind es meistens zwei Dinge, die zuerst ins Auge bzw. Ohr fallen und viele Musikhörer davon abschrecken Joanna Newsom zu hören. Auch ich habe lange zu dieser Gruppe gehört.
Zuerst wäre da die Harfe. Newsom ist professionell ausgebildete Harfenspielerin und benutzt sie auch als Hauptinstrument in allen Songs auf Ys. Die Harfe, dieses scheinbar so langweilige, leicht esoterische Instrument, dass sonst nur in der hinteren Ecke von Orchestern seinen Platz findet oder auf ironische Weise in der Popkultur vorkommt. Zu sperrig, zu harmlos um spannend zu sein? Falsch. Newsom zeigt in ihren Kompositionen wie vielseitig, aufregend und auch zu jeder Zeit berührend so eine Harfe klingen kann. Das ist noch dazu zu keiner Zeit akademisch oder eintönig. Stattdessen gibt es hier fünf schwelgerische, dramatische und einfach wunderschöne Lieder zwischen Folk, Pop und einem Hauch Klassik. Unterstützt wird Newsom dabei auf fast allen Songs von einem Orchester, dass von Van Dyke Parks äußerst stimmig arrangiert wurde.
Das zweite „Problem“ ist Joanna Newsoms Stimme. Ebenso wie ihre Musik ist ihr Gesang einzigartig, aber beim ersten Hören auch seltsam und befremdlich, für manche sicher gar nervig und nur schwer zu ertragen. Newsom quietscht und gurrt in einer hohen Stimme, in der immer etwas dramatisches und gleichzeitig niedliches mitschwingt. Das führt dazu, dass viele Hörer bereits vor dem ersten richtigen Hördurchgang behaupten Newsom könne nicht singen und Ys keine weitere Chance geben. Doch ganz im Gegenteil. Die Kontrolle, die Joanna Newsom über ihre Stimme hat, die Emotionen und den Ausdruck, den sie in ihre Vortragsweise steckt, sind unglaublich und beeindruckend. Und mit der Zeit gewöhnt man sich nicht nur an die scheinbar kindliche Gesangweise, man beginnt sie zu lieben. Und es ist auch eigentlich nicht mal wirklich eine kindliche oder gar kindische Stimme. Newsom verbindet in ihrem Gesang viel mehr die Essenz kindlicher Weltoffenheit und Abenteuerlust mit erwachsener Lebensweisheit und Desillusion.
Emily zum Beispiel ist eine bombastische und aufgeregte Liebeserklärung an Joanna Newsoms Schwester (die auch Background singt), eine Astrophysikerin. Dem entsprechend verbinden die Lyrics dann auch Worte der Zuneigung mit Erzählungen vom gemeinsamen Sterne beobachten, mit einer Pallette farbenfroher Vokabeln . Das alles beschreibt und singt Newsom so detailliert und lebendig, dass der Hörer sofort unmittelbar in diese Situationen befördert wird.
Der ungewöhnlichste Song ist Sawdust & Diamonds, der als einziger auf jegliche zusätzliche Instrumentierung neben der Harfe verzichtet. Dennoch oder auch gerade deswegen ist es der emotional berührendste und überwältigendste Song auf Ys. Auch wenn es schwer ist allen Metaphern, Wortspielen und Gedankengängen zu folgen, bleibt Sawdust & Diamonds einer der treffendsten, poetischsten und realistischsten Liebeserklärungen überhaupt. Jeder zweite Satz ist so schön formuliert oder so prägnant, dass man sich ihn tätowieren lassen könnte. Dazu spielt Newsom scheinbar mühelos komplexe Harfenmelodien, für die eigentlich vier Hände nötig wären und singt den Hörer durch ein Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffnung, Wut und Freude, während im Hintergrund eine alles durchdringende Aura von Melancholie schwebt. Die typische Hörreaktion dabei lässt sich, wie auch bei allen anderen Songs auf Ys, folgender maßen beschreiben: Offener Mund, debiles Grinsen, plötzlich Gänsehaut, dann ein paar Tränen und am Ende das Gefühl, dass man so eben Zeuge von etwas ganz besonderem geworden ist. Schwachpunkte gibt es so auch keine auf dieser Cd und es bleibt abschließend nur zu sagen: Der Hype, die Lobeshymnen sind alle mehr als angemessen und Joanna Newsoms Musik ist es Wert alle Vorbehalte und Vorurteile über Bord zu werfen...
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