Ich betrete den vollen Hörsaal für die erste Vorlesung in diesem Semester gerade noch rechtzeitig. Da mir netterweise ein Platz in der vorletzten Reihe freigehalten wurde, kann ich mich sofort hinsetzen und in das vielstimmige Chaos vor der Vorlesung eintauchen. Ein Großteil des Publikums besteht aus großäugigen Mädchen, die bereits eine halbe Stunde vor Beginn hier waren, um sich mental, geographisch und vor allem logistisch auf das Bevorstehende vorzubereiten. Sie haben, von kleinen Abweichungen abgesehen, alle folgendes mitgebracht: Einen großen Block zum mitschreiben, einen kleinen Block um wichtige Einzelheiten noch einmal separat aufschreiben zu können, diverse Schreibutensilien und Textmarker, eine kleine Plastikwasserflasche oder eine überdimensionierte Trinkflasche, eine große Plastikdose mit genug Broten, Obst- und Gemüsestücken für eine Großfamilie, Regenschirm und diverse Kleidungsschichten für alle Eventualitäten und eine bereits leicht lädierte Handtasche, prall gefüllt mit frisch gekauften Unibüchern. Die „Mädchen“ wären somit bestens vorbereitet für eine zweiwöchige Safari aber in dem engen Hörsaal sind sie zwischen all ihren Utensilien lediglich hoffnungslos eingeklemmt.
Der Rest der Studenten besteht aus Veteranen des universitären Betriebs, die aus vorgetäuschtem Interesse, wegen ihrer Unentschlossenheit oder einfach Unfähigkeit diese Anfangs-Vorlesung (noch einmal) besuchen. Die Veteranen kommen spät und geben sich betont lässig. Sie wollen den „Mädchen“ zeigen, dass sie das hier alles schon kennen und auch das sie cool und erfahren sind. Die letzten von ihnen kommen deshalb scheinbar betont zu spät und versuchen sich dann möglichst würdevoll und lässig auf die unbequeme Treppe am Rande des Hörsaals zu setzen, denn Sitzplätze gibt es keine mehr.
Der Dozent ergreift das Wort und sorgt mit seiner Erklärung des soziologischen Phänomens, wie aus einer ungeordneten Situation aufgeregten Durcheinanderredens Eine mit geordneter Aufmerksamkeit und Stille werden kann, für ebendiese Stille und Aufmerksamkeit. Die älteren Studenten räuspern sich und lachen leise und wissend, um zu zeigen, dass sie das alles schon kennen. Die „Mädchen“ haben nur das Wort „soziologisch“ gehört und fangen manisch an in schöner Mädchenschrift alles mitzuschreiben. Der Dozent weist gleich darauf hin, dass im Internet zu Verfügung stehende Folien ein andauerndes Mitschreiben ersparen sollten. Die „Mädchen“ atmen daraufhin erst einmal aus und nutzen die freie Zeit um das bereits Geschriebene in 15 Farben zu markieren und unterstreichen. Der Rest wird sowieso nicht mitschreiben und sieht und hört dazu auch teilweise nichts, so am Rand auf der Treppe. Vorne hat der Professor jetzt eine Folie auf den Overheadprojektor gelegt. Das projizierte Bild ist wie immer in diesem Saal etwa in Briefmarkengröße zu sehen und nimmt nur einen Bruchteil der riesigen Wand ein. Die obligatorische Frage, ob auch alles gut lesbar sei in den letzten Reihen, ist scheinbar ein Insider Witz unter den Dozenten. Für alle, die nicht in den ersten beiden Reihen sitzen, liest der Dozent ab jetzt auch jede Folie vor, was die Folien dann wieder einmal gänzlich überflüssig macht, abgesehen von einer beschäftigungstherapeutischen Wirkung für ohnehin bereits überforderte studentische Hilfskräfte.
Danach geht die Veranstaltung endlich los...nicht. Denn zunächst müssen die Veranstaltungsanforderungen für Bachelorstudenten im Haupt- und Beifach, Magisterstudenten im Haupt- und Nebenfach und noch einige andere Kombinationen erläutert werden. Dazu wird für Ruhe und selektive Aufnahme der Studenten plädiert. Die eine Hälfte hört aber ohnehin überhaupt nicht zu und wird nachher ihre Nachbarn (die auch nicht zugehört haben) nach dem Wichtigsten fragen. Die andere Hälfte schreibt dagegen zwanghaft alles mit inklusive Witze, Versprecher und Wiederholungen. Nach einem knapp halbstündigen Ausritt durch die Prärie bürokratischer Totalausfälle bittet der Dozent um Rückfragen. Er erwartet dabei ausschließlich allgemeine Fragen, einen Umstand den er scherzeshalber dadurch hervorhebt, dass er vorgibt keine Spezialfragen von Studentinnen, die im 11. Semester holländische Philologie studieren und kürzlich Soziologie im Nebenfach dazugenommen hätten, beantworten wird (und dies auch gar nicht könnte). Sogleich meldet sich eine Studentin, die im 11. Semester holländische Philologie studiert und kürzlich Soziologie als Nebenfach dazugenommen hat und fragt, wie das denn bei ihr jetzt genau sei mit der Prüfungsanmeldung. Danach meldet sich noch eine weitere Studentin, diese bereits im 13. Semester holländischen Philologie studiert und eine jüngere Studentin, die nach einem Teilnahmeschein fragt. Die Antwort des Dozenten, der Teilnahmeschein sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und für diese Veranstaltung sinnlos und die Anwesenheitsüberprüfung darüber hinaus nur schwer durchführbar und ohnehin kindisch, befriedigt die Fragerin nicht wirklich. Vermutlich haben ihre Eltern auch früher schon ihre Teilnahmeurkunden bei sportlichen Wettbewerben eingerahmt und an die Wand gehängt.
Der Rest der Vorlesung verläuft danach ohne größere Zwischenfälle. Nach 10 Minuten gehen die ersten Veteranen, andere sind im Sitzen eingeschlafen oder unterhalten sich angeregt über Veranstaltungen, die sie nie oder nur selten besucht haben. Ab und an spüren die Treppensitzer anhand der Unruhe im Raum, dass gerade etwas wichtiges gesagt wurde. Sie strecken dann kurz (und vergeblich) ihre Hälse, versuchen etwas zu sehen und fragen ihre Treppennachbarn, was gerade gesagt wurde. Die schlafen aber entweder oder drehen sich gerade eine (Sport)-Zigarette. Irgendwann erbarmt sich dann eines der „Mädchen“ und gibt die wertvolle Information an die Treppensitzer weiter, die diesen kostbaren Halbsatz sogleich vollkommen kontextfrei in ihren ansonsten noch jungfräulichen Block schreiben (entweder mit einem zerkauten Werbekuli aus ihrer Grundschulzeit oder mit einem makellosen Stift, den sie sich von einem „Mädchen“ geliehen haben).
Am Ende der Vorlesung erleben wir noch ein weiteres soziologisches Phänomen. Der aufkommenden Unruhe im Hörsaal versucht der Dozent mit dem Hinweis entgegenzukommen, dass Sie (die Studenten) es in 5 Minuten geschafft hätten. Dieser Satz bricht (wie immer) im Gegensatz zu seiner gewünschten Wirkung jetzt alle Dämme bei den Anwesenden, die nach einer guten Stunde (un)aufmerksamen Zuhörens an ihrer absoluten Grenze angelangt sind. Das Raunen wird lauter und die ersten Veteranen packen bereits ihre (ungenutzten) Utensilien in Taschen und rechnen im Kopf aus, ob sie den nächsten Bus noch bekommen könnten. Die „Mädchen“ dagegen schreiben und malen trotz Handkrämpfe und Konzentrationsstörungen weiter fleißig mit. 10 Minuten nach Veranstaltungsende sind die ersten älteren Studenten bereits zuhause oder trinken mit Kommilitonen gemeinsam ein Bier nach diesem anstrengenden Tag. Die letzten „Mädchen“ sind gleichzeitig gerade abreisefertig nachdem sie in mühevoller Arbeit ihre gesammelten Utensilien in überdimensionierten Handtaschen verstaut haben. Sie machen sich auf den Weg zur nächsten Veranstaltung und planen dabei manisch rohkostkauend den Rest der Woche.
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