Donnerstag, 2. Juni 2016

Alben des Monats - Mai 2016

Car Seat Headrest - Teens of Denial
Will Toledo ist gerade mal 23 Jahre alt und hat mit seinem ersten offiziellen Album für Matador Records mal eben ein absolut fantastisches Indie Rock-Debüt heraus gebracht. Doch eigentlich stimmt das schon nicht, denn seit 2010 hat Toledo sage und schreibe 12 Alben selbstständig über Bandcamp veröffentlicht. Seine Musik wurde dabei immer weniger Lo-fi, doch erst mit Teens of Denial wurde aus Car Seat Headrest endgültig eine richtige Rock-Band und aus Toledo so etwas wie ein Rockstar.

Doch auch diese Behauptung ist eigentlich ungenau, denn anstelle eingängiger, gradliniger Rocksongs gibt es auf Teens of Denial zwölf absolut ungewöhnliche, massive Ungetümer, die fast alle die 5-Minuten Marke überschreiten - ohne irgendwann auch nur ansatzweise langweilig oder vorhersehbar zu werden. Toledo ist absurd selbstsicher und unterhaltsam, obwohl er sich gleichzeitig als phlegmatisch, sarkastisch, depressiv und vor allem planlos präsentiert.

Der erste Song des Albums beginnt mit der wunderbaren Zeile: "I'm so sick of (fill in the blank)" und diese tiefe Frustration, die sich aus einer Plan-, Richtungs- und Antriebslosigkeit zusammen setzt, zieht sich durch das ganze Album. Im selben Song wehrt sich Toledo gegen die Vorwürfe, dass er noch nicht genug gekämpft habe, um depressiv zu sein. In anderen Songs versucht er es mit Drogen, Alkohol und Partys, doch die Drogen haben nicht die gewünschte Wirkung, der Alkohol wird zur Gewohnheit und auf die Partys folgt der Kater und die Melancholie.

Die Frustration und Richtungslosigkeit gipfelt in der ebenso absurden, wie genialen Ballad of the Costa Concordia. In mehr als 11 Minuten präsentiert sich Toledo als zielloser, wütender Rebell ("I stay up late every night. Out of some general protest. But with no one to tell you to come to bed, It’s not really a contest.") und sympathisiert mit einer langen Liste seiner Fuck-ups und Unzulänglichkeiten mit dem Kapitän des verunglückten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia ("It was an expensive mistake"). Und am Ende dieses dreiteiligen Epos steht die Kapitulation ("I give up!"), aber es ist eine kathartische, stolze Kapitulation, die auch in der Energie des Songs übertragen wird.

Das ist generell eine Stärke des Albums: Teens of Denial erzählt sehr persönliche Geschichte über Problemen und das Scheitern, aber es ist nie eine deprimierende oder leblose Angelegenheit. Die Band rockt im wahrsten Sinne des Wortes und die Songs strotzen nur so vor ungezügelter, unerwarteter Energie. Toledo stürzt sich in seine Unzulänglichkeiten und macht Magie daraus. Der große, durchdachte Sound steht dabei nie im Kontrast zu DIY-Einstellung und Lo-Fi-Produktion, sondern intensiviert die Wirkung seiner Vision nur noch. Es hilft, dass die Platte zwar groß, aber immer noch direkt und dreckig klingt.

Insgesamt merkt man dem Album auf jeden Fall an, dass es das Ergebnis eines ebenso produktiven, wie einfallsreichen Musikers ist. Es wirkt auf der einen Seite absolut durchdacht - mit Liebe zum Detail, unzähligen überraschenden Elementen im Sound und einer generell epischen, ausufernden Qualität. Gleichzeitig wirkt Teens of Denial aber nie wie ein steifes Konzeptalbum, sondern behält sich diese aufregende Spontanität bei von einem Typ, der eben einfach macht, was er liebt. Am besten lässt sich das mit einer Stelle bei "Costa Concordia" verdeutlichen. Mitten im Song taucht plötzlich eine Melodie auf die ganz vertraut klingt. Toledo hat das wohl auch gemerkt und singt spielerisch zwei Zeilen von Dido's White Flag. Das wirkt nicht wie ein Gimmick, sondern passt einfach perfekt. 

Leider trug ein ähnlicher Geistesblitz dazu bei, dass alle physikalischen Tonträger des Albums eingestampft werden mussten, weil der Songwriter der Cars, dann doch nicht wollte, dass eines seiner Lieder hier auf vergleichbare Weise gesamplet werden sollte. Das ist ärgerlich, es passt aber auch, dass Toledo danach den Song binnen kürzester Zeit umschrieb, um zumindest die digitale Version seines Albums noch rechtzeitig veröffentlichen zu können. Und das Beste: Der Song ist auch so großartig und verdeutlicht noch einmal die Kreativität eines genialen Indie-Rock-Künstlers, der mal eben so etwas wie ein modernes Meisterwerk geschrieben hat.        

Lieblingslieder: Fill in the Blank, Destroyed by Hippie Powers, Drunk Drivers/Killer Whales, Unforgiving Girl (She's not An), The Ballad of the Costa Concordia


Nothing - Tired Of Tomorrow
Dominic Palermo war in verschiedenen Punk Bands und voll in der Hardcore/Punk-Szene. Dann landete er für eine Messerattacke zwei Jahre im Gefängnis. Als er wieder frei war, fand er nach eigener Aussage keinen Zugang mehr zum Leben und dachte immer wieder an Selbstmord. Zum Glück kanalisierte er diese Hoffnungslosigkeit stattdessen in Nothing - eine Band, die gleichzeitig die erfolglose Sinnsuche im Leben, aber auch irgendwie eine neue Hoffnung verkörpert.

Nothing hat durch Palermo und die anderen Mitglieder einen Bezug zu Punk und Hardcore, dazu ist die Band noch auf einem Label, das hauptsächlich für extreme Metalmusik bekannt ist. Und trotzdem klingt Nothing so ganz anders als erwartet. Auch auf ihrem zweiten Album, Tired Of Tomorrow, spielen sie etwas, das neben Indie Rock und "Alternative Rock" vor allem nach Shoegaze und Dream Pop klingt. Palermo singt mit einer Stimme, die zwar im Sound verwaschen und verzerrt klingt, aber im wesentlichen doch wehmütig und klar bleibt. Es gibt dazu so viele großen Melodien und schönen Momente, die man so einfach nicht von einer solchen Band erwartet hätte. Diese Schönheit entspringt zwar einem durchweg düsteren und pessimistischen Sound und Weltbild, aber das macht sie nur noch viel interessanter.

Was Tired Of Tomorrow aber erst recht zu einem großartigen Album macht ist die Energie der Band. Ich mag Shoegaze und verwandte Genres für die psychedelische, traumhafte Qualität des Sounds. Aber viel zu oft klingt die Musik zu verwaschen, gleichförmig und dauerhaft abschweifend. Nothing nutzen die besten Elemente von Shoegaze und kombinieren es mit der Eingängigkeit und Zielstrebigkeit von Indie Rock, sowie der Wucht und Intensität von Punk oder Hardcore. Heraus kommen tolle Popsongs, die gleichzeitig einfach gigantisch klingen können. Musik zu der man headbangen und melancholisch Tagträumen kann.

Lieblingslieder: Fever Queen, The Dead Are Dumb, A.B.C.D. (Abcessive Comoulsive Disorder), Our Plague  


Radiohead - A Moon Shaped Pool
Nach jahrelangem Warten und Gerüchten um ein Trennung der Band zeigen Radiohead, dass sie das Spektakel der Albumveröffentlichung nach wie vor meisterhaft beherrschen. Die Band verteilte zuerst mysteriöse Flyer an Fans, löschte dann ihre gesamte Internetpräsenz, veröffentlichte zwei Musikvideos in kürzester Zeit und kündigte schließlich A Moon Shaped Pool für den 8. Mai an - ein Sonntag, wohlgemerkt. Und auch nach so langer Abwesenheit und trotz ihrem für viele enttäuschenden letzten Album, war der Hype ungebremst und das Internet überschlug sich schnell mit Lobeshymnen. Da bleibt es schwer LP9 noch unvoreingenommen und als Durchschnittsfan von Radiohead zu betrachten.

The King Of Limbs war nicht wirklich schlecht, aber nach dem Triumph von In Rainbows und mindestens 2 absoluten Meilensteinen im Rücken, blieb es für Radiohead-Verhältnisse eher unzugänglich, etwas blutleer und dazu noch ziemlich kurz. In den folgenden Jahren war Thom Yorke mit elektronischen, oft seltsamen Solosachen beschäftigt, während Gitarrist Jonny Greenwood weiter Lobesyhmnen als Filmkomponist sammelte. Zum Glück werden diese Einflüsse auf A Moon Shaped Pool sehr gut zusammen gebracht und Radiohead zeigen wieder mal, was für eine eingespielte Band sie sind.

Burn the Witch, war eine gute erste Single, aber ein im Albumkontext irreführender Song: Er klingt dramatisch, dringlich und ziemlich mächtig. Doch alle folgenden Songs sind eher ruhig, traurig und (auf eine oft sehr beunruhigende Art) verträumt. Trotz der prominenten Streicher, die dem Album eine orchestrale Qualität verleihen, klingt A Moon Shaped Pool oft wie "Ambient"-Radiohead.

Das soll aber nicht heißen, dass das Album nicht aufregend und großartig ist. Daydreaming besteht hauptsächlich aus einer einfachen Klaviermelodie und Thom Yorkes flehender Stimme, wird aber meisterhaft angereichert und verfremdet von nur schwer zu kategorisierenden musikalischen Elementen zwischen Elektronik, Orchester und Noise. Der Song entfaltet sich langsam und ruft dabei viele Erinnerungen an verschiedene klassische Radiohead-Songs hervor, ohne dabei wie eine bloße Kopie zu klingen. Am Ende widerholt Yorke die Zeilen "Half of my Life" immer wieder, rückwärts abgespielt. Man kann das als Hörer als Anspielung auf seine geschiedene Ehe (nach eben der Hälfte seines Lebens) werten, aber ehrlich gesagt auch so merkt man, dass es ein zutiefst persönlicher Song ist. Das gilt für das gesamte Album. A Moon Shaped Pool hat, politische und ökologische Themen hin oder her, wieder die emotionale Wucht und persönliche Note, die ich bei King Of Limbs vermisst habe.

Was auch auffällt ist, dass die Songs oft an so etwas wie die Greatest Hits von Radiohead erinnern, ohne, dass man wirklich den Finger darauf legen kann. Einige der Songs existieren schon sehr lange und wurden in anderer Form schon live gespielt, aber vielleicht ist es auch einfach das Radiohead-Phänomen. Es gibt einfach keine Band, die so leicht zu erkennen ist und doch so unkopierbar scheint. Auf A Moon Shaped Pool ist das noch verstärkt so. Die Band klingt so eingespielt und selbstsicher, aber auch so fremdartig, fast außerirdisch. Sind das Gitarren oder ein Klavier? War das ein halbes Orchester oder klingt die Band mit kleinen Mitteln nur auch schon so groß und mächtig? 

Das macht es auch sehr schwierig die Songs zu beschreiben, es gibt einfach so viel zu entdecken. Und das während die Lieder hier abwechselnd überwältigen und dann wieder einfach vorüber zu ziehen scheinen. Jeder Song verdient lange Abhandlungen, aber stattdessen will ich einfach nur noch ein paar Highlights heraus picken: Der erbarmungslose Basslauf, der Ful Stop vorantreibt und zu einem absolut atemlosen Song formt, der fiebrig-euphorische Gitarrenlauf am Ende von Identikit, die Klaviermelodie, das Gitarrenriff und die Streicher, die aus The Numbers im Wettstreit Magie machen und das wiederholte "Don't leave" am Ende des letzten Songs True Love Waits, der nach zwanzig Jahren endlich ein Studioversion bekommt und als 100. Radioheadsong noch mal alle Herzen bricht.

Ist A Moon Shaped Pool ein Meisterwerk? Dafür brauche ich definitiv noch mehr Zeit und Abstand - wohl aber eher nicht. Ist es ein großartiges Radiohead-Album und generell wunderschöne Musik? Definitv!  

Lieblingslieder: Daydreaming, Ful Stop, The Numbers        


White Lung - Paradise
Viele Punk- oder Metal-Bands stoßen irgendwann an die Grenzen ihrer Sänger. Der Gesangsstil sorgt für abgebrochene Konzerte, kaputte Stimmbänder und schließlich oft den Sängerwechsel oder eine Stiländerung in sanftere Gefilde. Das geht oft einher mit einer kommerzielleren Ausrichtung der Band und generell einer Enttäuschung der Fans. 
Auch White Lung hatten dieses Problem. Nach drei hervorragenden Punk-Alben und endlosen Touren war die Stimme von Sängerin Mish Barber-Way kaputt und auch die punkige, aber leichtsinnige Therapie aus Husten-Sirup und hartem Alkohol half nicht mehr. Doch anders als viele andere Bands machte Barber-Way aus ihren Limitationen eine Stärke. Mit Hilfe eines Gesangs-Coachs lernte sie ihre Stimme besser können, sie machte tägliche Stimm-Übungen und auf dem neuen Album Paradise singt sie im Einklang mit ihrer Stimme, ohne dabei an Kraft einzubüßen.

Die Veränderungen im Sound, die damit einhergehen, deuten auf eine größere Eingängigkeit und Poppigkeit hin, aber eigentlich war das schon immer die Richtung, die White Lung eingeschlagen haben. Unter dem erbarmungslosen Punksound steckten schon immer große Refrains und einprägsame Melodien. Auf Paradise geht die Band nur den nächsten logischen Schritt. Die Vorab-Singles Hungry und Below befassen sich mit der Vergänglichkeit von Ruhm und Schönheit aus der Sicht von Frauen. Dabei integrieren White Lung etwas in ihren Sound, dass man ganz ohne Abwertung "Power Balladen" nennen könnte. Barber-Way wandelt dabei ihre kratzige Wut in eine erhabene Stimmgewalt.

Paradise ist trotzdem zum Glück kein bequemes Pop-Album geworden. Barber-Way schlüpft in die Rolle weiblicher Serienkiller, alternder Hollywoodstars, sie singt über weibliche Körper in den USA und vor allem über die eigenen Widersprüche einer frisch und glücklich verheirateten Frau, die gleichzeitig authentische Punk-Ikone und Vorzeige-Feministin ist. 

Mindestens genauso wichtig für die Entwicklung von White Lung ist aber Gitarrist Kenneth Williams. Während die Rhythmus-Sektion White Lung mit Zielstrebigkeit und Kompromisslosigkeit in der Spur hält, ist es Williams' Gitarrenarbeit, die nach wie vor das größte Alleinstellungsmerkmal der bleibt.

Wo die meisten Punk-Gitarristen zwischen adäquat und einfallslos agieren, verbindet Williams scheinbar mühelos diese großen, erhabenen Riffs mit einem Sound, der absolut frenetisch und brutal klingt. Auch wenn es auf Paradise melodischer zugeht, gibt es immer noch genug Riffs auf die sehr viele Metal- und sogar Mathcore-Bands sicher neidisch wären. Schon Opener Dead Weight beginnt mit diesem atemlosen, nervösen Riff, das die Energie sofort hoch zieht, gleichzeitig sofort einprägsam und wiedererkennbar ist. Und so lange sich das nicht ändert, wird diese Band auch weiterhin etwas ganz Besonderes bleiben.   


Lieblingslieder: Dead Weight, Below, Kiss Me When I Bleed, Sister, Vegas

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